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Türchen 4 – Kurzgeschichte

Heute, am 4. Tag des Adventskalenders, habe ich etwas ganz besonderes für Euch: eine Kurzgeschichte aus der Feder von Christine Sylvester. Ich wünsche Euch genauso viel Spaß beim Lesen, wie ich es hatte 🙂

Die Weihnachtsrevolte

„So, Kinder, habt ihr nun alle eure Bilder fertig?“ Frau Tietze ging langsam durch die Klasse. Hier und da wurden noch ein paar Farbtupfer gekleckst, doch die meisten Kinder der 1b nickten eifrig.

Regine streckte ihr ein buntes Blatt Papier entgegen. „Nein, nein“, wehrte Frau Tietze ab. „Die Bilder könnt ihr dem Weihnachtsmann selbst überreichen, wenn er gleich kommt.“

Frau Tietze betrachtete lächelnd die Bilder voller bunter Weihnachtsmotive: Engel mit vollen Wangen, leuchtend rote Mützen, Sterne und Christbaumkugeln. Gespannte Stille herrschte auf einmal in der Klasse, und die Kinder sahen ihre Lehrerin aus großen Augen an.

Nur Joschi schien mit seinem Bild noch nicht fertig zu sein. „Joschi, lass mal sehen, was du gemalt hast!“ Frau Tietze trat hinter den Jungen, der noch eifrig an einer tiefschwarzen Wolke zeichnete. Dann blickte er auf und gab ihr das Bild.

„Ja, was ist das denn?“ Frau Tietze betrachtete das Bild voller düsterem Grau, Braun und Schwarz. „Warum sehen die Männchen denn alle so traurig aus? Und was sind das für seltsame Spielsachen?“

Nun kamen die anderen Kinder näher oder beugten sich über ihre Tische, um Joschis Bild zu sehen.

„Das sind Kinder, die auf den Weihnachtsmann warten“, erklärte Joschi. „Sie leben in Afghanistan. Deshalb haben sie keine Spielsachen. Das sind alles Gewehre.“

Betroffen starrte Frai Tietze erst in Joschis ernstes Gesicht und dann wieder auf das düstere Bild.

„Und das da oben …“ Joschis kleiner Zeigefinger deutete auf eine schwarze Gestalt mit zerrissenen Flügeln. „Das da ist der Friedensengel.“

In diesem Moment polterte es draußen auf dem Gang und kurz darauf wurde energisch an die Tür geklopft. Die Kinder huschten zurück auf ihre Plätze, und Frau Tietze trat nach vorne an die Tafel. Sie rief „Herein!“ und gab der Klasse ein Zeichen.

Die Schüler sprangen auf und zahlreiche Kinderstimmen zwitscherten „Oh, du fröhliche, oh, du selige …“, während ein Mann mit rotem Mantel und langem weißen Bart eintrat und eine großen Sack hinter sich her schleifte.

Neugierig sahen die Kinder ihn an und sangen dabei tapfer weiter. „Gnaaaden briiingende Weihnachtszeiit …“

Als das Lied verklungen war, erhob der wichtige Gast die Stimme: „Hallo, liebe Kinder! Ihr habt sehr schön gesungen und mir damit eine große Freude gemacht. Ich danke euch.“

Frau Tietze schob ihm einen Stuhl hin, auf dem der dicke Mann ächzend Platz nahm. Dann reichte sie ihm das blaue Klassenbuch.

„So, dann wollen wir mal.“ Er schlug das Buch auf. „So, so, sehr schön“, brummelte er in seinen langen Bart. „Ihr seid offenbar alle brav und fleißig. Ich sehe lauter gute Noten.“

„Wir bekommen doch in der ersten Klasse noch gar keine Noten“, maulte Sven aus der zweiten Reihe.

Regine sprang dem Weihnachtsmann bei. „Er hat bestimmt seine Brille vergessen. Alte Leute können nämlich ohne Brille nicht lesen.“

„Ganz recht, Regine“, mischte sich Frau Tietze ein. „Und nun seid still.“

Der Weihnachtsmann blätterte im Klassenbuch und sah dann streng in die Klasse. Sein Blick wanderte von einem zum anderen. „Wo ist denn die Susi?“

Ein kleines Mädchen stand auf und schaute verlegen auf ihre Schuhspitzen.

„Nun, Susi, bist du denn auch immer schön brav gewesen?“

Susi nickte und bekam einen hochroten Kopf.

„Das müssen Sie doch wissen“, rief Sven dazwischen. „Sie sind doch der Weihnachtsmann.“

Der alte Mann bedachte Sven mit einem strafenden Blick. „Du bist ja ganz schön frech, mein Kleiner! Vorsicht, ich habe auch eine Rute dabei.“

„Du darfst uns doch gar nicht schlagen“, empörte sich Joschi.

„Genau“, setzte Regine hinzu. „Man darf keine Kinder hauen.“

„Nicht mal die Eltern dürfen das!“, triumphierte Anna aus der letzten Reihe. „Wer haut, ist nämlich dumm!“

„Ruhe, meine Lieben!“, beschwichtigte Frau Tietze. „Ihr habt doch alle Bilder für den Weihnachtsmann gemalt …“

Inzwischen war Susis Verlegenheit gewichen. Sie trat nach vorne und hielt ihr selbstgemaltes Bild hinter dem Rücken verborgen. „Wenn du wirklich Kinder haust, bekommst du mein Bild aber nicht.“

„Hoho“, lachte der Weihnachtsmann. „Nur die ganz bösen Kinder, die, die andere Kinder hauen, die stecke ich in den Sack.“

„Nicht nötig“, rief Finn aus der dritten Reihe, der so groß war, dass man ihn ohne weiteres für einen Drittklässler halten konnte. „Um die kümmere ich mich. Ich bin nämlich der Stärkste von allen.“

„Aha“, brummte der Weihnachtsmann. „Dann bin ich aber beruhigt. Hast du denn auch ein Bild gemalt?“

„Na klar!“ Finn sprang so schnell auf, dass sein Stuhl umfiel. Er schnappte sich sein Bild und flitzte nach vorn, um sein Bild zu zeigen. „Das ist deine Schwester.“

„Welche Schwester?“ Der Weihnachtsmann blickte verdutzt auf den Jungen.

„Das Christkind natürlich“, erklärte Finn.

„Mensch Finn, bist du blöd“, rief Paula. „Das Christkind ist doch nicht seine Schwester!“

Der Weihnachtsmann nickte Paula zu.

„Das Christkind ist doch seine Frau“, warf Regine ein. „Die hat doch die ganzen Engel geboren!“ Sie hielt ihr Bild voller Engelchen hoch.

„Ach so?“ Nun stand Anna auf. „Du, Herr Weihnachtsmann, gibt es im Himmel denn Krippenplätze?“

„Wie kommst du denn darauf?“, mischte sich Frau Tietze ein.

„Weil seine Frau doch arbeitet, also als Christkind“, erläuterte Anna. „Und meine Mama kann nicht arbeiten, weil sie für meinen kleinen Bruder keinen Krippenplatz bekommt.“

Frau Tietze und der Weihnachtsmann sahen sich erstaunt an.

„Logo.“ Susi dreht sich zu Anna um. „In der himmlischen Krippe liegt doch das Jesuskind.“

„Quatsch“, entgegnete Sven. „Den haben sie doch längst getötet.“

„Genau, ans Kreuz genagelt haben sie den“, sagte Joschi. „Todesstrafe.“

„Hohoho!“, grummelte der Weihnachtsmann. „Ihr habt Recht, das Christkind arbeitet für mich. Aber das Christkind ist nicht meine Frau, sondern ein Kind …“

„Kinderarbeit ist aber verboten!“, rief Sven.

„Stimmt“, bestätigte Regine. „Kinder dürfen nicht arbeiten, sonst müssen die Eltern ins Gefängnis.“

„Und dann müssen die Kinder verhungern.“ Susi schluchzte auf.

„So, wie die Kinder in Afrika“, jammerte Anna.

„Warum bringst du den Kindern in Afrika nicht einfach genug zu essen?“, fragte Paula den Weihnachtsmann.

„Dort müssen die armen kleinen Kinder sterben!“ Susi begann zu weinen.

Frau Tietze nahm Susi beiseite. „Aber in Afrika feiert man doch gar nicht Weihnachten. Und wenn kein Weihnachtsmann kommt, kann er den Kindern auch nichts zu essen bringen“, versuchte die Lehrerin zu erklären.

„Das ist ungerecht“, quengelte Paula. „Das ist richtig fies und gemein.“

„Wie in Afghanistan“, schimpfte Joschi. „In Amerika haben sie ganz furchtbar viele Weihnachtsmänner, die durch das Internet kommen. Und in Afghanistan machen sie Krieg.“

Susi schluchzte erneut auf. „Meine Freundin Sabine feiert gar kein Weihnachten, und die muss auch nicht hungern.“

Finn schnaubte verächtlich und nahm dem Weihnachtsmann das Bild wieder aus der Hand. „Wie alt bist du eigentlich, Herr Weihnachtsmann?“

Der alte Mann zog seine Kapuze tiefer ins Gesicht. „Oh, mein Junge, ich bin schon sehr, sehr alt“, sagte er bedächtig.

Finn schnaubte erneut. „Kein Wunder, dass du das alles nicht mehr schaffst. Mein Papi sagt, dass junge Leute viel schneller arbeiten.“ Der Junge stampfte sichtlich erbost zurück zu seinem Platz.

„Mein Vati ist noch jung und hat keine Arbeit“, sagte Regine. „Dabei kann er sogar Computer.“

„Und wenn du schon so alt bist und schlecht gucken kannst, darfst du doch gar keinen Führerschein mehr haben“, rief Finn.

„Aber Kinder …“ Frau Tietze brachte die schniefende Susi zurück zu ihrem Platz und bedachte Finn mit einem strengen Blick. „Der Weihnachtsmann kommt doch mit dem Schlitten, den die Rentiere ziehen.“

Jetzt meldet sich sogar die sonst so schüchterne Katrin zu Wort. „Die armen Tiere. Rentiere gehören in den Wald. Stattdessen müssen sie so einen schweren Schlitten ziehen. Das ist Tierquälerei!“

„Das mit dem Schlitten ist doch Quatsch“, ereiferte sich Sven. „Es gibt doch gar keinen Schnee!“

„Es ist dafür viel zu warm, wegen dem Ozonlocjh“, klagte Regine. „Es ist hier bald genau so heiß wie in Afrika.“

„Und dann gibt es hier auch kein Weihnachten mehr und wir müssen alle hungern“, schlussfolgerte Anna.

Susi begann schon wieder zu weinen.

„Kinder, Kinder“, brummte der Weihnachtsmann. Er erhob sich und kramte in dem großen Sack. „Wollt ihr denn gar keine Geschenke haben? Ich habe euch Süßigkeiten mitgebracht und auch Äpfel und Nüsse …“

„Los Kinder!“, verlangte Frau Tietze streng. „Paula, du machst den Anfang.“

Paula trat vor, gab dem Weihnachtsmann ihr Bild und beobachtete, wie er ein Päckchen hervorkramte.

„So, mein liebes Kind“, dröhnte der Weihnachtsmann. „Und versprich mir, dass du auch weiterhin …“

„Gar nichts verspreche ich“, entgegnete Paula patzig. „Und außerdem darf ich nicht mit fremden Männern reden und schon gar keine Süßigkeiten annehmen.“

Die Schulglocke schrillte. Paula machte auf dem Absatz kehrt und lief aus dem Klassenzimmer. Die anderen Kinder sprangen murrend auf und folgten ihr.

Nur Joschi drehte sich noch einmal um und sagte: „Sie sollten wirklich erstmal die Sache mit dem Krieg in Ordnung bringen, bevor Sie von uns etwas verlangen!“

Als kurz darauf alle draußen waren, nahm der Weihnachtsmann Kapuze und Bart ab und seufzte.

„Tut mir leid, Herr Direktor.“ Frau Tietze ließ die Schultern hängen.

„Nicht doch, nicht doch, Frau Kollegin. Sie haben doch Recht. Diese Kinder haben vollkommen Recht!“

 

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One thought on “Türchen 4 – Kurzgeschichte

  1. Hach das war schön, Kindermund tut nunmal immer noch Wahrheit kund. Hat mir meine Bahnfahrt ohne Buch sehr versüßt.

    Dankeschön ^^

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